*Siebenmeilenstiefel bezeichnen in der Mythologie Stiefel mit Zauberkraft, die dem Träger die Fähigkeit verleihen, in kurzer Zeit weite Entfernungen zurückzulegen.
Dienstagnachmittag, 29.08.2023:
Die Camino-Euphorie der in Le Puy beginnenden Pilger kann ich nicht mehr teilen.
Ich suche in den schönen Gassen tatsächlich keinen Pilgerkontakt, obwohl ich in den Wochen zuvor quasi förmlich danach lechzte. Hier in Le Puy scheint der Chemin Saint Jacques in Richtung Spanien Hochkonjunktur zu haben.
An so mancher Ecke der stolzen Stadt sehe ich mit Jakobsmuscheln verzierte Rucksäcke und blicke mit einigem Abstand in Gesichter, die voller Vorfreude sind.
Bei mir stellt sich, neben der Freude und dem Stolz es bis Le Puy als Fußpilger geschafft zu haben, auch eine gewisse Leere ein.
Mein Körper schaltet in den Sparmodus und möchte sich erholen.
Ich atme nach insgesamt 18 Wandertagen ohne Unterbrechung einmal tief durch ohne stundenlang an den nächsten Übernachtungsort denken zu müssen.
Nach dem Stadtrundgang höre ich beispielsweise zum ersten Mal seit Wochen meine geliebte Musik. Tides from Nebula, Marillion und unvermeidbar die Band „from the north side of Dublin“, die mir so sehr viel im Leben bedeutet: U2!
Ein Übergleiten ins fast schon „normale“ Freizeit-/Urlaubsverhalten ist da mehr als ansatzweise erkennbar. Mit Mühe schaffe ich es vorab zwei Fotos aus Le Puy mit der Nachricht meiner Ankunft zu posten.
Als Schreibblockade am Pilgerziel muss man das vielleicht nicht unbedingt deuten. Ich weiß ja, dass ich heute im Zug
und am Flughafen in Lyon ausreichend Zeit habe, über den letzten Tag auf meinem diesjährigen Jakobsweg zu berichten und bin selber gespannt, welche Ereignisse und Geschichten ich dabei erzählen werde.
Auf dem Weg zum Bahnhof lasse ich es ebenfalls langsam angehen, besuche einen Park
und meide damit weiterhin das bunte Pilgertreiben in der Stadt.
Nicht nur ich befinde mich im Zeitlupenmodus … überraschenderweise auch die französische Bahn, die 20 Minuten Verspätung für meinen Zug nach St. Etienne Châteaucreux angekündigt hat.
Da verwöhnt „Mann“ sich doch glatt die zusätzliche Wartezeit mit einem weiteren Cafe und süßem Schoko-Gebäck.
Doch so langsam sollte ich mal zu Potte kommen und mit dem Bericht meines letzten Tages auf dem Chemin des Allemandes auch beginnen … .
Der Anfang des gestrigen Tages war im Hinblick auf die kurze letzte Etappe schon einmal frohlockend. Ich blieb einfach länger als vorgesehen im Pilgerbett der Familie Cubizolle liegen.
Nach dem Aufstehen wartete ein überaus großzügiges Frühstück auf mich. Sabine, Frederic, Mélina und auch Titouan erfüllten mir in meiner schönen Zeit in ihrem Haus nahezu jeden Wunsch.
Es war mir insbesondere eine große Freude von Frederics Bio-Honig naschen zu dürfen, den er als Hobby-Imker in kleinen Mengen für die Familie und Freunde produziert.
Ein „Parfume“, das ich sogar in Form eines randgefüllten großen Glases „Miel“ als Souvenier mit nach Hause nehmen durfte.
Ein weiterer Höhepunkt war für mich das Pflücken von Obst und Tomaten aus dem heimischen Garten der Familie. Alles selbstredend chemiefrei angepflanzt und aufgewachsen, ganz so, wie es Mutter Natur bestimmt hat.
Im Nachhinein erzählte mir Mélina, dass ich bereits der vierte Pilger gewesen sei, den die Familie in ihr Haus aufgenommen habe und sie selbst im Jahr 2022 einige Etappen auf dem Chemin ab Le Puy-en-Velay gelaufen sind. Als Beweis wurde mir stolz ein französisches „Credential“ mit den entsprechenden Stempelabdrücken präsentiert.
Ich wurde damit tatsächlich von Pilgern beherbergt und kann der erfrischend natürlichen Mélina gar nicht genug danken, dass sie es war, die mir dieses Pilgererlebnis in erster Linie ermöglichte.
Zum Abschied schossen wir ein paar Erinnerungsfotos vor dem „Pilgeranbau“ und dann hieß es auch schon „Merci becoup et au revoir“.
Wie liebenswert diese tolle Familie doch ist, konnte man an der abschließenden Geste erkennen. Sie hatten für mich in ihrem Garten einen Becher voller sonnengereifter köstlicher Tomaten geerntet und überreichten mir diese als Proviant für die kurze Etappe nach Le Puy.
Nach all der Trödelei meinerseits lief ich dann endlich gegen 10:00 Uhr los, um an der nächsten Ecke schon wieder Fotos zu knipsen und mit der Welt außerhalb des Jakobsweges zu kommunizieren.
Aus meiner Träumerei wurde ich dann plötzlich durch den Anruf der Vermieterin des von mir in Le Puy gebuchten Studios gerissen. Diese teilte mir kurz und knackig mit, dass ich aufgrund ihrer beruflichen Pflichten unbedingt gegen 13:30 Uhr in Le Puy sein müsste um frühzeitig in das Appartement kommen zu können.
Wollte ich etwa meine verbleibende Zeit auf dem Chemin Saint Jacques künstlich verlängern?
Beim Blick auf die Uhrzeit bemerkte ich, dass ich bei einer verbleibenden Strecke von 13 Kilometern mich schon 30 Minuten im Hintertreffen gegenüber der im Wanderführer angegeben Streckenzeit befand um Le Puy um 13:30 Uhr tatsächlich erreichen zu können.
Wie von der Tarantel gestochen schnürte ich meine Siebenmeilenstiefel noch einmal neu und lief, so schnell ich konnte und die abgelaufenen Vibramsohlen es noch zuließen.
Unzählige fotografisch einfach nicht zu vernachlässigende Motive und zusätzlich, infolge meiner Unachtsamkeit, gelaufene Meter verschlimmerten meinen zeitlichen Druck.
Letzendlich lag ich 1,8 Kilometer vor dem Etappenziel trotz aller Hürden punktgenau in der vorgegebenen „Deadline“.
Diese Energieleistung hätte ich mir am letzten Tag wirklich nicht mehr zugetraut, zumal mein vor dem Chemin bereits angeschlagener linker Huf sich in den letzten Tagen immer häufiger bei mir meldete … .
Der kraftzehrende Aufwand war letztendlich völlig unnötig, da Madame Souvignet mich kurz danach völlig tiefenentspannt anrief und mir mitteilte, dass ich jetzt doch langsam pilgern könne, da sich ihre Pläne geändert hätten und sie erst nach 14:00 Uhr an der Wohnung zur Übergabe sein wird.
Schlagartig legte ich mich ins Gras eines Parks vor dem Stadtkern Le Puys und zog die Siebenmeilenstiefel einfach aus.
Wahnsinn, diese Frau hatte es tatsächlich geschafft, meinen Puls auf diesem Teil des Jakobswegs erstmalig auf 180 zu bringen um dann den Stecker auf der Strecke „kurz vor knapp“ zu ziehen.
C‘est la vie!
Belohnt wurde ich dafür aber von Madame Souvignet mit einem toll gelegenen und bestens ausgestatteten Apartement, das mir sehr behagte.
Sollte ich jemals Le Puy als Pilger wiedersehen, werde ich mich bei der Unterkunftssuche auf jeden Fall erneut vertrauensvoll an Madame Souvignet wenden!
Nachdem der Umstieg in Saint Etienne in den Anschlusszug nach Lyon in Sekundenschnelle doch noch klappte, kann ich meine kleine Geschichte ja weitererzählen … .
Nach der wohltuenden Körperpflege und letzmaligen Wäsche der am Tag zum Einsatz gekommenen Pilgerklamotten, schaute ich mir meine Lowa Stiefel 🥾 (Modell Trekker) einmal genauer an. Äußerlich sahen sie nach dem dritten Langstreckeneinsatz noch ganz ordentlich aus. Beide Vibram-Sohlen waren hingegen völlig abgelaufen.
Das für sich allein betrachtet ist sicherlich nicht ganz so schlimm.
In vergleichbaren Fällen hatte ich meine vormalig eingesetzten Trekker für knapp 100€ bei der Firma Lowa direkt besohlen lassen.
Zusätzlich hatte ich mir dieses Mal bei den „Bergetappen“ leider auch noch die „Hackenseite“ des linken Stiefels von innen schwer beschädigt.
Dort fehlte am Ende des Weges in Le Puy ein ganzes Stück des Innenleders, das auf abenteuerliche Weise offensichtlich weggescheuert wurde und ein Loch in der Fersenpolsterung ans Tageslicht brachte.
Aus diesem Grund klebte ich in den letzten Tagen auch täglich meinen Fersenbereich dick mit Hansapflast zu, um keine offenen und wunden Stellen im Achillessehnenbereich heraufzubeschwören!
Ich setze diesen Stiefeltyp bei meinen Wanderungen nunmehr seit 15 Jahren ein und hatte noch nie solch eine schwerwiegende Beschädigung zu beklagen.
Zuhause bei mir am Niederrhein lagern jedoch noch zwei Paar frischbesohlte Trekker Stiefel.
Kurzerhand entschied ich, dass die so schwer „angeschlagenen“ Siebenmeilenstiefel besser in Le Puy-en-Velay verbleiben sollten.
„Vielleicht kann jemand die Trekker in der Not noch eine gewisse Zeit auf dem Jakobsweg einsetzen, bzw. lässt sie vor Ort für kleineres Geld als beim Schuhhersteller reparieren“ waren meine diesbezüglichen Überlegungen und Gedanken.
Ich nahm die Schuhe am frühen Nachmittag verpackt in einer Einkaufstasche mit zur Erkundung der schönen Stadt und fand gleich um die Ecke meiner Unterkunft auch einen geeigneten „Friedhof für Wanderschuhe“.
Feierlich stellte ich mein Schuhwerk auf ein Podest an einer Hauswand, dekoriert mit schönen Camino-Gemälden, ab und dokumentierte die Zeremonie.
Ich war gespannt wie ein Flitzebogen, ob die Trekker bei meiner Rückkehr am Abend noch am Abstellort sein würden!
Anschließend fand ich im Stadtzentrum einen „Barber“, der mit seinem Handwerk endgültig meine Verwandlung vom Caminopilger zum Tagestouristen vornehmen sollte.
Das Ergebnis hat dann auch mich sehr belustigt.
Wer war eigentlich dieser Mann, der glattrasiert und geschoren eigentümliche Selfies vor dem bunten Barber-Salon schoss?
Stiefel abgelegt, Barthaare und Haupthaar rasiert, spätestens jetzt war ich im erstmals getragenen langärmigen Odlo-Hemd kein Pilger mehr.
Ich genoss diese deutlich unauffälligere neue Rolle in meinen Keen-Sandalen in der Pilgerstadt und „feierte“ meinen Abschied vom Pilgerdasein zunächst alleine in einer abgelegenen Pizzeria mit einem leckeren Essen und regionalem Bier.
Am Vortag hatte ich mich völlig überraschend und zu meiner großen Freude noch einmal mit Julie, der Pilgerin aus Düsseldorf die schon in Le Puy weilte, auf ein Abschiedsbier am Abend verabredet.
Ich durfte mir zur Feier meines Pilgerabschieds die Bar „le Shamrock☘️“ aussuchen.
Julie reagierte zunächst etwas irritiert als sie mich im neuen „Style“ im Pub sah.
Da die Anzahl der Gäste zu diesem Zeitpunkt sehr überschaubar war, mußte der an der Bar sitzende fremde Mann allerdings ihr Ex-Mitpilger Henry sein. Weitere Pilger hat Julie übrigens auf der Strecke Düsseldorf – Le Puy nicht getroffen!
Nach der freudigen Begrüßung tauschten wir uns intensiv über unsere letzten, getrennt verbrachten, Tage auf dem Jakobsweg aus und verweilten dabei immerhin 1 1/2 Stunden in dem renovierungsbedürftigen Irish-Pub.
Die Geschichte von meinen Stiefeln und deren Verbleib interessierte Julie dabei doch sehr.
Wir beschlossen, den Wanderschuh-Friedhof gemeinsam zum Abschluss unseres Treffens aufzusuchen und zu prüfen, inwieweit die Lowa-Boots dort noch standen. 10 Minuten später konnten wir uns dann am Ort des Geschehens feixend davon überzeugen, dass mein Plan aufgegangen war.
Die Siebenmeilenstiefel waren in der Tat weg und hatten offensichtlich einen neuen Besitzer bekommen.
Keine 25 Meter von dieser Stelle entfernt ist auf der nämlichen Straße, 42 r St. Jacques 43000 le Puy en Velay, übrigens ein Schuster angesiedelt, der Werbung für seinen Vibram-Sohlen-Austauschservice im Fensterladen macht.
Über diesen Zufall mussten Julie und ich ebenfalls herzhaft lachen.
Vielleicht hat sich der neue Lowa-Trekker-Besitzer vor dem Eigentumsübergang sogar noch schnell einen Kostenvoranschlag für die Reparatur bei Monsieur Aurrelle eingeholt?
Vor der Verabschiedung machte Julie aus Dokumentationsgründen noch einmal ein paar ulkige Fotos von mir und dem leergefegten Stiefel-Friedhof. Dann galt es aber wirklich Abschied zu nehmen, da Julie, im Gegensatz zu mir, am nächsten Tag weiterpilgern und verständlicherweise nicht so lange auf den Beinen bleiben wollte.
Buen Camino liebe Julie!
Ich möchte zum Abschluss noch ein kleines Fazit ziehen dürfen.
Die Strecke von Beaune nach Le Puy-en-Velay war eindeutig der schönste Abschnitt auf dem Chemin des Allemandes.
Ich bin sehr froh, dass ich diesen Weg gegangen bin, gleichwohl ich mit bis dahin unbekannten Schwierigkeiten bei der Quartiersuche und Essensbeschaffung konfrontiert wurde.
Zum Zelt tragenden Fußpilger werde ich in diesem Leben deshalb aber bestimmt auch nicht mehr!
Der Tag auf dem Campingplatz auf diesem Chemin war völlig okay, aber das Zelt muss man mir dann bitte schön vor Ort auch bereithalten. 😉
Der größte Gewinn auf diesem Jakobsweg war für mich, so vielen hilfsbereiten und sympathischen Menschen begegnet zu sein.
Die vielen schönen Geschichten dieses Weges werde ich bis zu meinem Lebensende nicht vergessen.
Wobei das Highlight für mich in diesem Jahr sicherlich die für einen Pilger völlig surreale „Champagnerparty“ inklusive der Beherbergung im Holzverschlag war.
Die Franzosen sind ein stolzes Volk!
Die Menschen haben das Herz am rechten Fleck und meistern in vielerlei Hinsicht mit Lebensfreude und Gemeinschaftssinn das tägliche Leben. Sie haben mir als Pilger unglaublich viele schöne Momente beschert. Ich bin sehr glücklich diese Erfahrungen gemacht haben zu dürfen. Auf all meinen Jakobswegen in Deutschland, Spanien und Portugal habe ich das bis dato in dieser Intensität noch nicht ansatzweise erlebt!
Un grand merci pour cette hospitalité, chers Français !
Im nächsten Jahr werde ich aller Voraussicht nach eine Pilgerauszeit nehmen wollen.
Mein Ziel ist es aber auf jeden Fall noch einmal nach Le Puy-en-Velay als Fußpilger zurückkehren zu dürfen.
Den Weg nach Roncevalles, den Julie in den nächsten Wochen bewältigt, möchte ich ebenfalls bestreiten und als Sahnehäubchen noch bis Pamplona verlängern wollen, da ich im Jahr 2008 meinen Camino Frances, aufgrund der schlechten Wetterlage, nicht in Saint-Jean-Pied-de-Port (Frankreich) sondern in Pamplona (Spanien) begonnen habe.
Wie sehr würde ich mich freuen, wenn meine Pilgerfreunde der ersten Stunde, Carsten und Stephan, mich dabei begleiten könnten!
Vielen herzlichen Dank für die vielschichtige Begleitung und wunderschöne Unterstützung auf meinem diesjährigen Weg.
Ich habe an so manchen Tagen daraus Kraft schöpfen können!
Merci und Au Revoir
Der Caminopilger Henry
Nachtrag Lyon:
Eine klitzekleine Geschichte möchte ich noch aus der an der Rhône und der Saone gelegenen Stadt nachtragen dürfen.
Auf meinem Weg zurück an den Niederrhein hatte ich noch einen mehrstündigen Aufenthalt in Lyon.
In der Innenstadt sprachen mich drei halbwüchsige Jungs an, lobten mein Outfit und bezeichneten mich als „Indiana Jones“.
Zum Abschluss baten Sie mich um ein gemeinsames Foto auf dem ich ein wenig böse schauen sollte. Ich stimmte dem Wunsch der Jungs unter der Voraussetzung zu, dass ich das Foto auch per „Airdrop“ erhalten würde.
Bei Betrachtung des Fotos habe ich dann schnell erkannt, dass ich mit meinem Lederhut und den Stöcken in der Tat aus der Reihe fiel. Indiana Jones lass ich so gerade noch gelten. Der ist zwar kein Pilger, befindet sich aber derzeit zumindest auf einem Kreuzzug in den Kinos Europas.
Dem jugendlichen Indiana Jones-Fanclub hab ich zum Abschluss dieser netten Begegnung einen wesentlich besseren Film empfohlen: